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SCHAU

Diese Strasse zu beleuchten, ist ein Fehler. Sie fahren eh zu schnell. Lieber sehe ich nichts und dann wenigstens die Lichtkegel des entgegenkommenden Autos. Maria hat die weissen Masten alle geknickt, knapp über dem Betonsockel. Seitlich angebaut an den Betonsockel, ein Betonsarkophag. Jeder Betondeckel liegt angelehnt an der nun offenen und leeren Betontruhe. Darin untergebracht war der Wandler, der die Solarpanels am oberen Ende der Masten in elektrische Beziehung setzte mit dem Akku – und mit der Strassenlampe, wieder oben am nun geknickten Mast. Hätte ohne Stromleitung funktioniert. Chinesische Technologie und Technik und auf zwei oder drei Kilometern Strasse hart an der karibischen See, hinter Massacre, für die, die von Roseau, dem Hauptort im Süden, nach Portsmouth im Norden des Inselstaates wollen. Spendiert von der Volksrepublik China mit einem Budget von mehreren Millionen Dollar und betoniert von chinesischen Arbeitern, gemäss Regierungsangaben des Staates Dominica ausdrücklich, um den ökologischen Fussabdruck in Hinblick auf den Klimawandel zu minimieren. Weit ausserhalb jeder Ortschaft, für Nächte, in denen kaum ein Auto fährt, wo noch nie mehr als eine geteerte Piste war. Jetzt geplündert. Jede Betontruhe geleert. Geplündert allerdings, bevor Maria die weissen Kandelaber geknickt hat, zusammen mit den Solarpanels vom oberen Ende der damals noch stehenden Masten – für sinnvollere Zwecke. Aber die Chinesen kommen wieder. Zwei, drei Einschnitte weiter nördlich, dort, wo Maria einen ganzen Container aufgewirbelt hatte. In letzter Minute konnten die darin wohnenden Arbeiter in die Kabinen der Lastwagen, Bagger und unter die Planierraupen kriechen. Nun haben sie sich wieder eingerichtet mit schwerem Gerät und Absichten. Und erst das Botschaftsgebäude: Von Massacre her kommend, sehe ich es auf Morne Daniel hocken, intakt leuchtend und grösser als der Präsidentenpalast unten in Roseau.


HOI

Immer wenn du hier jemanden siehst, sagst du «Hello, good day», «Hi, what’s up» oder: «Yess’ay». Eigentlich siehst du immer jemanden. «Yess’ay» sprichst du aus, wie unsere Grosseltern «Jesses» ausgesprochen haben, wenn sie erschraken. Den ersten Teil jedenfalls, «yess». «Ay» hingegen wird leicht in die Länge gezogen: «ahhy». Du kannst es mit Nachdruck aussprechen oder auch leicht fragend. Aus dem Auto ins andere Auto beim Kreuzen, über die Strasse oder über einem Häufchen «seasoning peppers» auf dem Markt am Strassenrand. Eine ganze Palette von Bedeutungen kannst du damit zum Ausdruck bringen. Du bist jemandem begegnet, und erst wenn du wieder in einen der wenigen noch ganzen Spiegel schaust, merkst du, dass du eine Weisse bist.


HOI CONRAD

Im Stadion von Roseau erobert das Kalinago-Schulteam dieses Jahr den dritten Platz, was in meinen Augen den Sieg der Underdogs aus dem Norden der Insel gegen die Privatschule aus der Hauptstadt Roseau beinahe in den Schatten stellt. Auch Conrad ist Kalinago. Fast niemand hier am Nordende der Insel nennt ihn so. Sie sagen «Carib», und einige sagen jetzt korrekt «Kalinago», wenn sie ihn grüssen. Er lebt nicht wie die meisten seiner Angehörigen im Reservat, einer Gemeinde im Osten der Insel, sondern zusammen mit der meist schwarzen Bevölkerung hier. Wenn sein Fuss mitmacht, wird er in Zukunft wieder die Umgebung des Schulhauses betreuen können, das hat ihm der Minister persönlich zugesagt. Das Vetivergras am steilen Bord unterhalb der Schule, das den Hang zusammenhält, wird er allerdings auch in Zukunft nicht schneiden können. Das würde der Fuss nicht mitmachen. Der Fuss macht nicht mehr mit, weil einer aus dem Dorf ihm mit der Machete die Achillessehne durchgetrennt hat, plötzlich an einem Abend. Aus Eifersucht oder aus anderen Gründen.


ICH GRÜSSE DICH, MARIA

Maria hat den Wald ausgezogen in der sieben Stunden dauernden Nacht im letzten Herbst. Bis die Stämme splitternackt und ohne einen Ast im Boden stehen geblieben sind. Das ganze Grün der Insel Dominica zu einem feinen Brei verschliffen, der sich in der Sargassosee verloren hat und der auch im Innersten der verpressten Handys, die zuunterst im Panikraum gelegen haben, klebt. Angezogen hat sie einigen von ihnen nur «Krawatten» oder auch «Schals» aus Wellblech auf Flughöhe eines Daches. Nach welchen Kriterien hat sie die Auswahl getroffen? Ein halbes Jahr später tragen die Strünke alle paar Meter dunkelgrüne Pompons, und am Abend tanzt an jedem Horizont der Insel ein langer Umzug gespässiger Figuren Polka gegen das letzte Licht des Tages.


TEEZEIT

Vom 9. bis am 12. April 1782 sassen die englischen Herrschaften bei «tea» und «cookies» an den nördlichen Hängen der Insel. Sie verfolgten die Battle of the Saints, eine Seeschlacht zwischen England und Frankreich im Kanal zwischen Guadeloupe und Dominica mit siebzig involvierten Kriegsschiffen. Wahrscheinlich wurde auch Rum getrunken angesichts dieses Spektakels. Aus der nahe gelegenen Garnison hingegen, gebaut zwischen den zwei Hügeln der Cabrits, einer kleinen Landzunge bei Portsmouth, wurde in den zweihundert Jahren ihres Bestehens kein einziger Kanonenschuss in kriegerischer Absicht gefeuert. Mit Kanonen niedergeschlagen wurde dort nur eine Rebellion von eigenen Soldaten, die sich über mangelnde Ernährung und ungerechte Behandlung beklagt hatten und schliesslich den Dienst verweigerten. Die Soldaten waren Briten, aber schwarz, der für seine Brutalität bis in die Armeeführung bekannte Kommandant war Brite, aber weiss. Diese Garnison taucht nun ab und zu in einer Schweizer Tageszeitung auf als Inseratetext: «7. Tag: Der Westen Dominicas – kleine Wanderung im Cabrits National Park und Besichtigung von Fort Shirley, einer britischen Festung aus dem 18. Jahrhundert.» Ein Teil der Anlage wurde renoviert. Das Dach hat gehalten, aber nicht der auf grosse Kreuzfahrtschiffe ausgelegte Pier. So werden in absehbarer Zeit keine Kreuzfahrtschiffe mit weissen Menschen an Bord hier anlegen. Unter den Dächern feiert der Norden der Insel seine Hochzeiten. An den Wänden historische Stiche mit kreolischen Tänzen und Marktszenen mit feinen, freien schwarzen Damen. Die ehemalige Kommandatur, eine Ruine, eingeklemmt in einer Senke zwischen den beiden Hügeln, wurde von Maria aus ihrem dichten grünen Kleid geschält, und an den Trümmern der massiven Befestigungen zur Douglas Bay hin, fünfzig Meter über dem Meer, baumeln nur noch die Wurzeln. Besser, als auf den präparierten Wegen zu gehen, ist es, die Landzunge der Cabrits auf dem schmalen Saum aus Fels und Stein knapp über dem Wasserspiegel zu umrunden. Nach drei viertel des Weges, genau unterhalb der Schanze liegt seit Jahrhundert und Tag eine ungebrauchte Kanone auf dem Strand, vier Meter Rost, nicht mehr gebrauchte Geschichte. Ich wünschte, ich könnte um das Schloss Lenzburg herumgehen und eine Kanone läge vor meinen Füssen. Diese Geschichte wurde gewissenhaft eingesammelt.


DOMINICA STRONG

Schiffe voller japanischer Pickups erreichen eine Insel ohne Brücken. Gelöscht werden sie in Roseau. Zu viele Pferdestärken auf dem Boden eines Ortes aus dem 19. Jahrhundert, denkst du. Alles zu schmal, die Häuser zu schmal, die Wassergräben zu schmal, die wenigen Trottoirs zu schmal, um Mensch und Maschine aneinander vorbei zu bringen. Denkst du. Noch viel mächtiger, mitten auf der Kreuzung steht in diesem Gewühl eine kompakte Lastwagenmaschine. Eine Art gedoptes Sackmesser, aufgepumpt auf die Grösse eines Containers. Vorne, hoch oben in der Kabine zwei Sitzreihen. Platz für achtmal menschliche Arbeitskraft. Aus der zweiten Reihe hat mich ein scharfer, selbstbewusster Blick erfasst. Als ich ihn bemerke, lässt er mich stehen, kriecht davon. Die Kubaner. Nach Maria sind sie gekommen, haben sich in einer der verstreuten Tribünen des einzigen Stadions der Insel eingerichtet, ihre Fahne, gross, und die Wäsche ans Kommentatorenfenster gehängt. Es war nicht Maria, die die Tribünen verstreut hat, sondern die sich vermischenden Bedürfnisse unterschiedlicher Sportarten. So dass man, auf der stadtseitigen Tribüne sitzend, im Vordergrund die Schülermeisterschaften (ohne Schülerinnen) unter den Auspizien des Ministers sehen kann, dahinter eine Trainingseinheit der Athletinnen und im Hintergrund ein Cricketmatch. Maria hat nur bewirkt, dass die ganze Anlage nun auch von den AnwohnerInnen als Freizeitanlage genutzt werden kann. Das Fenster oberhalb der kubanischen Fahne bleibt leer. Mit ihrer Power und ihrem unzweifelhaften Sachverstand, was Hurricanes angeht, reparieren die Kubaner die Wanderwege auf Dominica. Die Insel verkaufte sich bisher als «Nature Island of the Caribbean».


SUNSET SUNSET SUNSET SUNSET SUNSET

Vorbei an kalten Schwefelquellen, wo leises Pfeifen aus dunklen, faustgrossen Löchern kommt, blubbernder weisser Schlamm eine fast lebendige kleine Landschaft bildet zwischen den Wurzeln der entlaubten Bäume, von der jede eine Schlange sein könnte, ein Kolibri in der Luft steht, scheinbar auf eine erste Blüte wartend, steil hinauf zum Joch. Dort pfeift der Ostwind ununterbrochen und fegt uns fast über die Geländekante zurück in die Tobel der Nordküste. Aber wir möchten einen Blick auf Guadeloupe erhaschen, die Insel, die Europa ist. Und wir sehen, Maria hat auch im Windschatten der steilsten Berge alles poliert. Tief hinunter jetzt auf der Piste, die Taiwan vor fünfzehn Jahren gegen China planiert hat und die China vor einigen Jahren gegen Taiwan begonnen hat zu betonieren. Es ist die Weite des Atlantiks, die die jäh zum Meer hin abfallende Landschaft so weitläufig erscheinen lässt. Alle verstreut liegenden Gebäude erscheinen winzig und machen damit die Landschaft gross. Wir winden uns dem Blau entgegen, und unten, zwischen den Häusern des Ortes scheinen wir hinunterzufallen, denn an diesem Abhang lebten Menschen, schon lange bevor die Räder mit den aufmontierten Motoren kamen. Wir bringen handtellergrosse, sonnenbetriebene Nachtlichter, denn weite Teile der Insel haben auch viele Monate nach Maria noch keinen Strom. Am Ende dieser Strasse steht ein Mann. Er nimmt uns mit am letzten Haus vorbei, zwischen den Resten von Bäumen durch dichte Ballen von dürrem und grünem Gras. Ein warum auch immer angepflocktes Schaf. Hart an der hohen Klippe ein kniehoch überwachsener Platz, in dessen Mitte ein in den Boden eingelassener Betonkubus in der Grösse eines Autos. Dies ist die Erinnerungsstätte für fünf junge Männer aus dem Dorf, die nach einem Fest nicht mehr nach Hause kamen. Man habe sie unten an einer Felswand gefunden in ihrem zerschmetterten Auto. Aber, wird uns gesagt, nicht einer hätte aus dem Kopf geblutet. Es sei kein Unfall gewesen. Es sei etwas anderes gewesen. Bedeutungsvolle Pause, vielsagender Blick. Ihre Namen stehen nun mit einem Stecken nebeneinander in den Beton geritzt. Dazu jedes Mal das Wort «Sunrise» mit dem Geburtsdatum und das Wort «Sunset» mit immer demselben Datum.

BERTRAND, NASSIEF, UNICEF, LEBLANC

Als Grossbritannien Dominica im Jahre 1763 übernahm, wurde die ganze Insel in käufliche Parzellen aufgeteilt und ausschliesslich an neu Zugewanderte verkauft. Antony Bertrand, ein Hugenotte, kaufte ganz im Süden der Insel eine Parzelle, die vom Ufer der Grand Bay bis hinauf zu den umliegenden Gipfeln reichte und etwa vier Quadratkilometer Land umfasste. Er taufte das Land «Geneva Estate» nach seinem früheren Zuhause in der Schweiz. Elias Nassief, ein libanesischer Händler mit geschäftlichen Aktivitäten in Dominica, kaufte Geneva Estate 1949 von Norman Lockhart, unter dessen Eigentümerschaft die EinwohnerInnen von Grand Bay freien Zugang zu den Ländereien gehabt und den grössten Teil mit ihren eigenen Gärten belegt hatten. Nach dem Kauf liess Herr Nassief im Einklang mit dem geltenden Recht das gesamte Gebiet räumen. Die BewohnerInnen von Grand Bay mussten die Gärten ganz nach oben an die Bergkämme verlegen. Der Protest der Gewerkschaft fruchtete nichts, und auch der Versuch der Regierung, das Land zu kaufen und in kleine Parzellen aufzuteilen, scheiterte. Kokospalmen wurden gepflanzt, in der alten Zitrus- und Zuckerfabrik wurden die Nüsse zu Copra verarbeitet. Am Karneval von Grand Bay kam es 1974 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Protagonisten in Sensaykostümen. Diese bestehen aus langen dichten Büscheln von Fäden oder schmalen Stoffstreifen, die den ganzen Menschen verhüllen. Conrad, der Kalinago, ist Meister im Herstellen dieser Kostüme. Er macht sie heute aus weissen Plastikstreifen. Es wurde versucht, die Strasse nach Roseau, der Hauptstadt, zu unterbrechen, in den Wochen nach dem Karneval wurden auf Geneva Estate die Lager geplündert und mehrere Pflanzungen auf Bodenhöhe zurückgeschnitten. Am 25. März 1974 erschien jemand, der sich «Unicef» nannte, auf dem Hof, forderte die Arbeiter auf, zu fliehen, und entwendete einen Lastwagen. Am Donnerstag derselben Woche wurde Unicef verhaftet, konnte jedoch kurz darauf fliehen. Am 2. April 1974 wurden Geneva Estate samt Fabrikgebäuden und Herrn Nassiefs Geschäft in Roseau bis auf die Grundmauern niedergebrannt. In einem Radiointerview am 4. April 1974 versprach der Premierminister Edward Oliver Le Blanc, die Angelegenheiten der Leute von Grand Bay einer Lösung näher zu bringen. Eine anschliessende Untersuchung ergab, dass der Mangel an Landparzellen und, anders als in anderen Teilen der Insel, die nicht vorhandene Bereitschaft zur Kooperation zur Eskalation geführt hatten. Nach und nach wurde Geneva Estate von der Regierung übernommen und in kleine Parzellen aufgeteilt, die nun wieder von der örtlichen Bevölkerung bebaut werden. Im Norden der Insel hatte mich noch gewundert, warum die Gärten der Bevölkerung nicht gleich neben ihren Häusern oder am Rande des Dorf liegen, sondern meist oben in den Bergen, wo man nur zu Fuss hinkommt. Der Grund liegt wohl im Jahre 1763, als die ansässige Bevölkerung ihre Gärten hinauf zum Urwald verlegen musste, weil alles bebaubare Land von der Krone unter ihren Füssen weg verkauft wurde.


VERSPROCHEN

Zwischen der schmalen Strasse und dem Ufer des Meeres liegt die vor einigen Jahren im fortgeschrittenen Zustand aufgegebene Baustelle für einen zwei- bis dreistöckigen Hotelkomplex. Maria hat dann auch noch an der Bauruine mitgemixt. Jetzt aber wurde rund um die Anlage mit zerbrochenen Dachlatten ein neuer, bedruckter Sichtschutz auf die Mauern genagelt. Und auf diesem Sichtschutz wird das Versprechen des marokkanischen Königs für eine wahrhaft globalisierte Vision von Tourismus erneuert. «Morrocan Dominican Touch, Made in Morroco, Cabrits Hotel Resort Spa Training Insertion Design», weitere Worte, dazu Embleme der involvierten Firmen und als Siegel das Wappen des Commonwealth Dominica mit den zwei Sisserou-Papageien, die sich einander anschauend auf einem Band gegenübersitzen, auf dem geschrieben steht «Après Bondié, C’est La Ter», der Wahlspruch der Insel. Dazu abgebildet ein junger Mann, gekleidet für den sommerlichen Besuch eines Sportanlasses, eine Anderthalbliter-PET-Flasche in der Hand, der – uns zu drei Vierteln den Rücken zuwendend – quer über den JPEG-Artefakt eines Weges auf ein Gebäude mit rotem Schrägdach zugeht. Die Fassaden haben den Touch von Marmor. Auf einem der Balkone ein Mann in dunklem Anzug, auf der Terrasse ein älterer Herr in weissem Hemd, die Hände in die Hüften gestützt. Es scheint, als schaue er auf zwei Tische – copy /paste –, auf die in leichter Untersicht lauter Flaschen in genau derselben Anordnung gedruckt sind. Auf der leicht abfallenden sattgrünen Fläche schwebt dreimal dieselbe Rattansitzgruppe, bestehend aus einem Cocktailtischchen und zwei Sitzgelegenheiten. Weiter sind – auf die Grösse des Sichtschutzes aufgeblasen – Auszüge aus den Bauplänen für die Hotellobby mitsamt Vermassung zu sehen. Die Lobby wird, wie wir erfahren, eine Raumhöhe von insgesamt 405 cm haben und von einem etwa acht Meter langen, holzfarbenen Desk von 110 cm Höhe geprägt sein, die Deckplatte schwarz, unterhalb davon ein über die ganze Länge verlaufendes Band mit arabeskem Muster. In die Wand hinter dem Tresen eingelassen eine bühnenartige Vertiefung, seitlich begrenzt durch zwei je 320 cm hohe, flache und säulenartige Elemente, wiederum in Holzfarbe und ganzflächig mit einem arabisch anmutenden Muster versehen. Die Traverse oberhalb der Vertiefung misst in der Höhe 35 cm, ist ebenfalls mit dem arabisierenden Muster versehen, liegt jedoch optisch nicht auf den seitlichen Elementen auf, sondern scheint der Erdanziehung zu widerstehen. Unten, jenseits des Bildrandes wächst Gras über das Dach und die Balken, die Maria hinuntergeworfen hat, oben grüsst aus einer Fensterhöhle der marokkanische Gastarbeiter, der hier weiterbauen soll, ganz froh, endlich wieder einmal französisch reden zu können. Aber die Haitianer, die sich nach Maria auf ihrem Sprung nach Amerika vorübergehend in diesen Grundmauern eingerichtet haben, können doch auch Französisch. Oder nicht?

HARMONISCHER FORTSCHRITT

Anfang Juni 2018 fand in «Geneva» (Schweiz), genauer im Grand Hotel Kempinski, das internationale Jahrestreffen der Passverkäufer statt, «Investment Migration-Forum» nennt es sich. Investitionsmigranten. Mit dabei auf dem Podium Mohammed Asaria, der auf einer in karibischen Medien verbreiteten Fotografie eine «Tribune de Genève» mit aktuellem Datum in die Höhe hält, um dem Publikum zu beweisen, dass er zurzeit nicht wegen angeblichen Betrugs in einem chinesischen Gefängnis sitzt. Weitere Recherchen zu den möglichen Gründen, verbundenen Namen, dem Handel mit Pässen und Investitionen in der Karibik im Allgemeinen führen in eine untiefe, ausgedehnte Landschaft von Marmorverkleidung, legitimen Interessen, Malta, Dubai, Obwalden, Frage-zeichen und Prospekten. Mit seiner Firma Range Development baut Herr Asaria mit dem Geld von verkauften Pässen Dominicas das «Cabrits Resort Kempinski Dominica». Das Betonskelett der Luxusanlage mit 160 Betten, aber ohne jede touristische Infrastruktu r auf der Insel, wächst im Sumpf nördlich von Portsmouth. Der Sumpf war, da er der einzige seiner Art auf der Insel ist, seit der Gründung des Staates Teil eines Naturschutzgebietes. Statt sumpfigem Grün und Geröll am Meer soll im Namen Kempinskis schon Ende 2018 ein langgezogener weisser Strand mit Betonpavillons im Strandhüttenstil den Tourismus im obersten Preissegment ankurbeln. Kempinski Hotels «mit bemerkenswertem europäischem Flair» sieht es so: «(…) we can confirm that this property was created in harmony with the location and environment, and in fact, this was a cornerstone of the positioning of this project to local authorities». Der Vorvertrag zum Bau wurde am 14. Februar 2014 unterschrieben. Einige Monate später wurde ein wesentlicher Teil des Naturschutzgebietes durch ein Dekret des Präsidenten annulliert.


PIZZA

«Stein auf Stein auf gefallenen Stein», steht an der Fassade der Kunsthalle Bern geschrieben. Das kommt dir jetzt in den Sinn, auf dem dunkelgrünen Pick-up zwischen Roseau und Portsmouth. Die Blattfedern an der Hinterachse reflektieren die Schläge der Strasse zuverlässig. Es ist, als würden sie die Stösse nicht dämpfen, sondern konzentrieren, verdichten und zwei Oktaven höher an die Körper auf der Ladefläche weitergeben. Das Fahren durch die Nacht der Insel auf diese Weise macht uns süchtig. Wir sollten die Packungsbeilage lesen. Darauf steht, dass es hier keine Verkehrsvorschriften gibt ausser dem Linksverkehr, einer Hinterlassenschaft der Engländer. Eine Barriere ist also in keinem Fall Ausdruck staatlicher Hoheit, sondern immer eine Mitteilung privater Natur, zwischen uns, den Menschen. Oder es ist eine Mitteilung von Maria, dass es hier nicht weitergeht, auch Monate nach dem Sturm. Nicht aber hinter dieser Barriere vor unserer Nase. Da steht ein Sikh mit Kopfputz und in eleganten Gummistiefeln. Ein sympathischer Ingenieur, der auf dem aufgerissenen Lehmhügel einen Hotelkomplex mit mehreren hundert Zimmern im obersten Preissegment erstellt, Marke Marriott Signature. Er gibt uns den Rat, das Vetivergras in kurze Stücke zu schneiden und den Lehm lange zu stampfen, bevor wir den Ofen damit bauen. Den Lehm teilt er in verschiedene Kategorien: jenen, der aussieht und sich anfühlt wie Erde, sollen wir zuletzt nehmen, nur für die Aussenhülle. Vor allem aber sollen wir trockenen Lehm nehmen und nicht den feuchten, wie er in meinem ersten Kübel ist; aus dem einfachen Grund, dass wir dann weniger Gewicht zu tragen hätten bis hinauf zum Pick-up. Unten am Karibischen Meer verschwinden die Stiefel des Sikhs mit ihm in der sowohl betonierten als auch bedachten Baubaracke. Die Ruinen der betonierten Bungalows sind über den Rest des noch nicht aufgerissenen Hügels gestreut, alle ohne Dach und Balken. Eine Ferienanlage, zusammengebrochen, lange bevor Maria kam. Aufgemalt auf die Kabine des an Land geworfenen Kutters, bleicht der Sisserou-Papagei, das hoheitliche Wappentier Dominicas, vor sich hin.


GRILL

Der Mond ist hell, aber die Nacht ist schwarz und schnell gekommen wie überall nahe am Äquator. Die Strasse windet sich, dann streckt sie sich durch den Talboden. Langes, krummes Kokosgestänge zeichnet sich dunkel gegen das Gebirgsmassiv ab. Wir sitzen um das Reserverad verteilt, das immer auf der Ladebrücke liegt. Über die offenen Fenster der Kabine hören wir mit: Mama Rosy habe Pouletschenkel in der Glut. Jene Pouletschenkel, die wir täglich meiden, vermutlich. Niemand auf dieser Insel kann Pouletschenkel so günstig produzieren wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Schenkel liegen nun in Mama Rosys Grillhaus, einem russigen Rohr mit eigenem Kamin, einem einzigen Fenster. Einem Glühwürmchen gleich, fliegt im Innern der Kabine wieder ein Handy zum Ohr: Nicht hier, im nächsten Dorf sei das Haus von Mama Rosy. Wir sehen kein Dorf, nur ein schwaches Notlicht hinter Gittern. Wieder windet sich die Strasse, dann endlich rollt der Wagen aus. Auch ohne Strassenbeleuchtung lassen sich im Scheinwerferlicht an der Strasse und steil oben am Hang einige Häuser erkennen. Obwohl der Motor läuft, ist es sehr still, und das Öffnen der Autotüren zeigt mit einem kurzen Knacken an, dass es sich bei dem Wagen um ein älteres Modell handelt. Das Innere der Kabine leert sich, und auch wir schwingen unsere Beine über die Heckklappe. Als hungrige und orientierungslose Gruppe Gespenster verteilen wir uns der Strasse entlang. In den Veranden sehen wir nun Menschen – Familien, Männer, Frauen, Kinder – stehen, sitzen, liegen. Still schauen sie uns an. Es ist das Sirren eines Generators hinter der nächsten Kurve, das sie von uns erlöst. Dort ist Licht und ein Laden und eine blaue Bank für die Anhänger der einen Partei und eine rote Bank für die Anhänger der anderen Partei. Einzig die Glut im Rohr ist aus, und die Pouletschenkel sind dank dem Generator noch gefroren. Wir essen stattdessen andere industrielle Erzeugnisse direkt aus der Verpackung.


STRAND

Später sitzen wir nahe beisammen. Wir sind nicht viele, und wir wissen voneinander auch nicht, wer wir sind. Es ist kühler, als wir gedacht haben. Vom Atlantik her treibt ein stetiger Wind Wolkenstücke über unsere Köpfe hinweg ins nachtschwarze Hinterland. Wir sitzen vielleicht auf einer umgeworfenen Palme, vielleicht auf einem von einem Hochwasser angeschwemmten Urwaldriesen. Unter den Füssen kugeliges Geröll. Unten an der kurzen Böschung Sand. In unseren Gesichtern feine Schwaden von Gischt. Die Distanz zur Brandung ist schwer zu schätzen; zehn, vielleicht zwanzig Meter. Der fast volle Mond macht silbrige Zuckerwatte aus den Wolken, die an ihm vorbeiziehen. Wir reden nicht viel, und wenn, nur mit gesenkter Stimme. Wenn wir möchten, können wir uns ein Stück der Decke über die Schultern legen. In unserem Rücken die Ruine eines kleineren Zweckbaus, hier, weit vom Dorf, am Rande einer Flussmündung. Wir vermuten ein ehemaliges Lagerhaus für Bananen, die von dort verschifft wurden. 1978 kam die Unabhängigkeit, und mit ihr kam die Freiheit Grossbritanniens, keine Bananen mehr aus der kleinteiligen ehemaligen Kolonie zu kaufen. Zehn Jahre später war das Geschäft tot, und uns bleibt nichts, als ein paar Worte darüber zu verlieren. Sie kämen viel langsamer als die langgezogenen Wellen, die, anders als die Wolken, unablässig auf uns zurollen, sich vermischen zu einer lebendigen Flüssigkeit, die keine Richtung kennt und aus der sich im Laufe der Stunde allerhand Chimären erheben. Nach den Pouletschenkeln von Mama Rosy wären sie der letzte Programmpunkt des heutigen Tages. Mal komme eine, meist komme keine. Während hundert Nächten jedes Jahr kämen sie, hundert Jahre alt seien sie. In den letzten drei Wochen waren es fünf Stück, drei davon in einer Nacht. Weit draussen könne man sie schon erkennen, wie sie von den Wellen überholt werden, je näher an Land, desto ungelenker wirkten ihre Körper. Ihr nehmt ihre Eier, und ihr kennt die paar Wilderer, die es immer noch gibt hier auf der Insel. Wenn die Jungen schlüpfen, müsst ihr sie auf den Meter genau an jene Stelle zurückbringen, wo ihr sie ausgegraben habt. Dann entlässt ihr sie zu Hunderten als Fischfutter. Und eine dieser unzähligen winzigen Schildkröten wird vielleicht wieder hundert Jahre alt werden. In dieser Nacht haben wir keine gesehen, nur die Nähe eines Menschen gespürt, der mit grosser Ruhe seit vielen Jahren versucht, ihnen über unsere Zeit hinwegzuhelfen. Tagsüber arbeitet er als Förster, oben im Nationalpark bei den Riesen.

DA, DA
Warum küsst mir am einen Ende der Strasse, beim Besuch im Haus mit dem Betondach, wo die ganze Familie nach Maria hingekommen ist, die hundertjährige Madoy ganz unbefangen und beiläufig die Hand? Ganz weisse Haare hat sie, obwohl die meisten hier auch in hohem Alter nur ein weisses Glitzern im schwarzen Haar haben. Am andern Ende der Strasse, jenseits der Berge, liegt die fast hundertjährige Patricia angelehnt auf der abendlichen Veranda. Sie liest in einem Taschenbuch, sie ganz weiss mit Haut und Haar und dreht nur kurz den Kopf zu uns, lächelt leise, unnahbar.


DA
Eine unauffällige, mitteleuropäische Person von vierzehn Jahren, urban, verstöpselt auf dem Laufenden, steht zwischen einigen vom Wind verquirlten Bäumen auf einem ungeschnittenen und doch perfekten kurzen Rasenplatz aus ledrigem Grün und sagt: «Das ist der schönste Ort, an dem ich in meinem Leben gewesen bin.» Vor ihren Augen im Dunst des Abends gerade noch zu erkennen Marie-Galante, ein flacher Teller, gleich neben Guadeloupe im Meer stehen gelassen. Links unterhalb der nicht allzu hohen Klippe der Palmenstrand, rechts, wie gespiegelt, wieder Palmenstrand. Hinter ihrem Rücken stellt ihr zusammen mit Lennox Honychurch Vermutungen an, warum sein Haus als eines der wenigen nach Maria noch gleich ausgesehen hat wie zuvor. War es die steil abfallende Klippe, die den Sturm abprallen liess und die Luftströmung gleich über das Dach hinweghob? War es die von ihm selbst entworfene und von alten Kolonialhäusern in Martinique übernommene Konstruktion mit den steilen Dächern oder das Fehlen von verglasten Fenstern? Die Fensteröffnungen werden mit massiven Holzelementen, die sich mit einem Handgriff jalousienartig bewegen lassen, geöffnet und geschlossen. Oder waren es die seitlich im Dach eingelassenen Transversallüftungen, die die verhängnisvollen Unterdrucksituationen verhinderten und den Sturm passieren liessen? Strom gibt es auch hier noch immer keinen, was den Fundus an Gegenständen, Objekten und Bildern, den der Historiker in der Halle sorgfältig aufgebaut hat, noch geheimnisvoller erscheinen lässt. Auf dem dunklen Tisch im Hintergrund noch einmal das Haus als Modell aus Sprossen; ein Skelett, das am Anfang stand. Der Tisch draussen auf der Veranda, so schwer, dass vier Personen ihn nicht zu tragen vermögen, diene manchmal einem Pärchen aus der Dorfbevölkerung als Ort für ein Schäferstündchen, sodass sich unser Gastgeber beim Nachhausekommen schon diskret am Geschehen vorbei in sein Haus begeben habe. Am schönsten Ort der Welt.

HELL-DUNKEL
In meinen Händen halte ich eine Scherbe, einen Flaschenboden, gegen innen bombiert. Sein Durchmesser deutlich grösser als der einer Weinflasche. Das Glas fühlt sich weich an, hat keinen Glanz, ist schwarz, und nur, wenn man es direkt in die Sonne hält, erhält es ein schlammiges Grün, opak, wie wenn Russ im Glaskörper wäre. Kleine Unebenheiten und Krater in der Grösse einer Nadelspitze muss es von seiner Gussform erhalten haben. Der Flaschenboden ist aus zwei Teilen zusammengesetzt. Einem inneren Teil, der wie von Hand ein wenig unregelmässig eingedrückt ist, und dem Aussenteil, der in einer sauberen Rundung in die Seitenwand der Flasche übergeht. Es wird sich um eine Flasche gehandelt haben, die um 1800 während kurzer Zeit als Patent eines gewissen Henry Rickett einen fulminanten Siegeszug um die Welt antrat, die erste industriell hergestellte Flasche. Schon bald darauf wurde sie durch Flaschen ersetzt, die nur aus einem einzigen Glaskörper hergestellt waren. Zuerst hatte ich die Scherbe für eine Wurzel gehalten, die mich beim Blick auf den Boden des steilen Wanderweges verwunderte, dann für ein Stück Hartplastik, das die Kubaner bei der Restauration von Segment 13 des Waitukubuli Trail hatten liegen lassen. Dann sind wir weitergeganen. Aber die Kubaner haben Segment 13, oben bei Malgrétout Estate, Dominica, zwei Stunden Fussweg vom Ende der Fahrstrasse und den letzten Behausungen weg, noch gar nicht restauriert mit ihrem gedopten Sackmesser. Malgrétout Estate habe ich wiedergefunden in einem Buch von 1881 über die Kultivierung von liberianischem Kaffee in Westindien. Mit den Fingernägeln habe ich auf dem Rückweg den festen lehmigen Boden um das wunderliche kleine Halbrund weggeschabt und dann erst das dunkle Glas gefunden, in dem sich keine Zukunft lesen lässt.


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